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Lindner, J. u. D. Eckstein: Forme fruste einer Lipodystrophia progressiva oder multiple flächenhafte symmetrische Lipomatose? Z. ges. Med. 37(1982), 130-132

Code: Lipodystrophia progressiva

In der von Ries durchgeführten Aufteilung der Fettsuchtformen findet sich eine Trennung der universellen von der zonalen Adipositas. Zur letztgenannten Gruppe gehört u. a. auch die Lipodystrophie. Bekannt sind derartige Formen nach Insulininjektionen oder auch als Lipodystrophia intestinalis. Die progressive Lipodystrophie als regionales Krankheitsbild befällt vorwiegend Frauen und äußert sich in ihrer komplexen Form darin, daß Gesicht und Oberkörper abmagern, während Hüften, Gesäß und Oberschenkel eine deutliche Hypertrophie aufweisen. Neben diesem Vollbild gibt es noch Formes frustes und inverse Verläufe, bei denen eine Fetteinlagerung besonders im Bereich des Oberkörpers vorliegt. Der Begriff Lipomatose ist den umschriebenen Fettgeschwülsten vorbehalten. Er sollte bei gleichmäßigen Verdickungen bestimmter Körperabschnitte, insbesondere bei zonalen Fettsuchtformen, nicht angewendet werden. Indolente Bildungen können die Extremitäten bevorzugen, sich aber auch über den ganzen Leib erstrecken. Männer sind häufiger befallen. Der histologische Aufbau unterscheidet sich nicht vom normalen Fettgewebe.

Eigene Beobachtung

Im Jahre 1978 erste stationäre Aufnahme des 44jährigen Patienten G. Sch. (Krankenblatt - Nr 31306 81) mit indolenten, prall - elastischen, diffusen Gewebsverdickungen der Oberarme, Schultern, Brust und des Unterbauches. Keine verläßlichen Angaben über Zeitdauer der Veränderungen, möglicherweise erste Symptome nach Einnahme von Penizillinpräparaten im Dezember 1977. Zweiter stationärer Aufenthalt im Februar 1981. Umfangszunahme der beschriebenen Körperbereiche. Auftreten pflaumengroßer, elastischer Knoten am linken Oberschenkel und retroaurikulär. Mäßige Atrophie an Wangen, Unterarmen und Unterschenkeln. Keine Gewichtsveränderung (82,0 kg) im gesamten Beobachtungszeitraum. Verschlechterung der körperlichen Leistungsfähigkeit (Abb. 1a u. b.).

BSG: 2039 mm n. W., Hb: 12,1 g dl bei unauffälligem weißen Blutbild: Kreatinin im Serum: 0,55 mg dl, Gesamtcholesterol: 175 mg dl, Triglyzeride: 113 mg dl, HDL - Cholesterol 65,0 mg dl, SGOT: 49 IE, SGPT: 28 IE. Gesamteiweiß: 7,7 g dl, Albumin: 54, a-1-Globuline: 7, a-2-Globuline: 5, ß-Globuline: 14, y-Globuline: 20 rel.“ „. OGTT: 82/170/122/88 mg dl, Drei - Stufentest mit IRI: normale Blutglukose- und Insulinreaktion. Östrogene, 17-Ketosteroide und 17-Hydroxykortikoide im Harn normal, unauffällige Metopironbelastung. LH: 13,6 E l, FSH: 6,0 E l, Testosteron: 4,9 µg/l, Prolaktin: 200 µE l, fehlender Anstieg nach 25 min. ETR: 1,03. STH - Bestimmung nach Glukosestimulation: paradoxe Reaktion, verdächtig auf eine hypothalamisch - dienzephale Störung. EEG, ENG, EMG und Röntgenaufnahmen der Extremitäten und des Schädels unauffällig. Die histologischen Untersuchungen 1 ( Nr. 6059/78, 4568-69 81 Pathologisches Institut des Bezirkskrankenhauses Karl-Marx-Stadt, Nr. 4856 81 des Pathologischen Instituts der Karl-Marx-Universität Leipzig) ergaben vergrößerte Fettzellen bei ansonsten normalem Fettgewebe. Muskulatur gleichfalls ohne krankhafte Veränderungen. Oberbauchsonographie: Homogen - locker verdicktes Subkutanfettgewebe, hepatobilliäres System unauffällig bis auf wandverdickte Gallenblase, im Pankreas fettige Infiltration möglich. Psychiatrische Untersuchung: Reaktiv-depressives Stimmungsbild ohne wesentliche Neurotisierung. Die im beschriebenen Falle vorliegende Störung der Fettgewebsverteilung läßt sich nicht ohne weiteres einer der bekannten Untergruppen zuordnen . Die diskrete Atrophie an Gesicht, Unterarmen und Unterschenkeln bei Umfangszunahmen in anderen Körperbereichen ergeben gewisse Hinweise auf eine Forme fruste bzw. inverse Form der Lipodystrophia progressiva. Das klassische Krankheitsbild wurde erstmals in den Jahren 1910 13 von Holländer und Simons beschrieben. Im Jahre 1920 schlug Günther die Bezeichnung Lipomatosis atrophicans vor. Die spätere Bearbeitung des Leidens durch Barraquer (in [6] ) führte auch zur Bezeichnung Barraquer-Syndrom. Typischerweise liegt eine extreme Abmagerung von Gesicht und Oberkörper bei unförmigem Fettansatz an Hüften, Gesäß und Oberschenkeln vor. Die Fettatrophie der oberen Körperpartie soll der Hypertrophie der unteren Körperhälfte zeitlich vorausgehen. Über die Ätiologie gibt es bisher keine Klarheit. So schuldigen einige Autoren dienzephale Störungen an, wie auch in unserem Falle beschrieben, doch lassen sich damit Hypertrophie und Atrophie nicht gleichzeitig erklären. Endokrine Einflüsse könnten gleichfalls eine Rolle spielen. Das regionäre Auftreten der Atrophie zeigt Bindungen an anatomische Verhältnisse, wobei dem peripheren Nervensystem eine wichtige Funktion zukommt. Mögliche Beziehungen zwischen zerebralen Prozessen und trophoneurotischen Störungen sind ebenfalls zu diskutieren. Die in unserem Falle sehr diskrete Fettgewebsatrophie bei ausgeprägter und primärer Hypertrophie weist möglicherweise auf eine Sonderform der Lipodystrophia progressiva hin. In diesem Zusammenhang erwähnten Meißner und Ries Asymmetrien der Fettverteilung, invertierte Varianten und Beobachtungen mit Gesichts- und Stammfettsucht bei abnormer Abmagerung an den Extremitäten. Differentialdiagnostisch erwägen wir eine symmetrische Lipomatosis indolens, da neben flächenhaften Fettgewebshypertrophien auch einzelne Knoten festgestellt werden konnten. Der unauffällige histologische Befund und das normale EMG würden in dieses Bild passen. Wenn auch Lipome i. allg. harmlos sind, können sie für den Träger eine Belastung darstellen. Unserem Patienten passen am Oberarm und Brustkorb die Kleidungsstücke nicht mehr, während die angegebene verringerte körperliche Leistungsfähigkeit durch eine Fahrradergometrie nicht zu sichern war. Es bleibt abzuwarten, ob sich im Laufe der Zeit die Lipomatosis verstärkt und andererseits die Fettgewebsatrophie deutlicher in Erscheinung tritt.

Zusammenfassung

Es wird über einen 44jährigen Patienten berichtet, der seit 1978 eine besondere Form der Fettgewebsverteilungsstörung aufweist. Neben deutlichen flächenhaften Hypertrophien an Oberarmen, Schultern, Brust und Unterbauch sowie pflaumengroßen Knoten am linken Oberschenkel und retroaurikulär finden sich diskrete Atrophien im Gesicht, an den Unterarmen und Unterschenkeln. Bei weitgehend unauffälligen paraklinischen Befunden werden Sonderformen der Lipodystrophia progressiva und der symmetrischen Lipomatosis indolens diskutiert.

Literatur

[1] Günther, H., Die Lipomatosis und ihre klinischen Formen, Gustav Fischer Verlag, Jena 1920
[2] Hegglin, R., Differentialdiagnose innerer Krankheiten, 11. Aufl., Georg Thieme Verlag, Stuttgart 1969
[3] Holländer, E., Über einen Fall von fortschreitendem Schwund des Fettgewebes und seinem kosmetischen Ersatz durch Menschenfett. Münchener med. Wochenschr. 57, 1795-1798 (1910)
[4] Lisser, H., u. R. F. Escamilla, Atlas of Clinical Endocrinology, Second Edition. The C. V. Mosby Company. Saint Louis 1962.
[5] Meißner, F.,u. W. Ries, Beitrag zur Lipodystrophia progressiva. Z. ges. inn. Med. 8, 307-312 (1953).
[6] Ries, W., Fettsucht. Johann Ambrosius Barth Verlag, Leipzig 1970.
[7] Simons, A., Lipodystrophia progressiva. Z. Neurol. 19. 377-397 (1913).
[8] Stout, A.P., u. R. Lattes, Atlas of Tumor Pathology. Armed Forces Institute of Pathology, Washington D. C. 1967

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